Kein gutes Haar läßt Spiegel TV an einer deutschen Familie, die im benachbarten Österreich völlig legal ihre Kinder zuhause unterrichtet. Das vernichtende Urteil, das der Spiegel-Film über deren Lebensstil fällt, gründet auf zwei Tatsachen: Es handelt sich um überzeugte Christen und – sie sind nicht sexuell korrekt.
„Es war einmal eine Kaninchenfamilie, die unweit von einem Rudel Wölfe lebte. Die Wölfe erklärten, die Lebensweise der Kaninchen gefalle ihnen nicht. Die Wölfe waren begeistert von der Art, wie sie selber lebten, denn das war die einzig richtige Art zu leben.“ So beginnt eine Fabel des US-amerikanischen Schriftstellers James Thurber aus dem Jahr 1945. „Die Kaninchen, die an allem Schuld waren“ ist eine feinsinnige Miniatur um Ausgrenzung und Beseitigung Andersdenkender. Mit den absurdesten Behauptungen rechtfertigen die Wölfe, warum sie gegen die ihnen mißliebigen Kaninchen – bis zu deren Vernichtung – vorgehen. Dabei lassen diese sich gar nichts zuschulden kommen. Doch das bloße Anderssein der Langohren genügt, um sie für alles mögliche zur Rechenschaft zu ziehen.
Der Klassiker gibt die Bühne frei für das Video „Homeschooling: Weltfremde Eltern als Lehrer“ von einem gewissen Silvio Duwe. Da flieht also eine sechsköpfige Familie, vom Zwangsgeld, das der deutsche Staat wegen ihres Hausunterrichts verhängt, von Bayern nach Österreich. Dort hält sie sich an die geltenden Regeln in Sachen Schulbesuch, lebt in einer Reihenhaussiedlung, setzt ihr Homeschooling fort. Der Vater arbeitet als Tiermediziner, die Mutter versorgt Haushalt und vier Kinder, den Unterricht teilen sie sich. Dennoch scheint die Familie etwas ganz schlimm verkehrt zu machen. Diese Menschen denken und handeln, sie empfinden und glauben nicht so, wie der Filmautor und dessen Verleger in Deutschland es wollen – und mit ihnen die begierigen Konsumenten ihrer Medienprodukte.
Mit Propagandamitteln Hausunterricht bekämpfen
Zwar könnte man denken: „Aus den Augen – aus dem Sinn.“ Doch nein, Duwe und sein Filmteam fahren hinterher – und geben vor, etwas Sensationelles gefunden zu haben: Das „Paradies für deutsche Gegner des deutschen Schulsystems“. So platt und unbelegt, so hochtrabend diese Behauptung in dem ersten Satz des Filmes daherkommt, geht es bis zum Ende. Ausgangspunkt für die Beurteilung der Familie scheint das Heil zu sein, Konsum- und Sinnenlust ausleben zu können. Dies ist dem Unheil einer strenger elterlicher Kontrolle unterworfenen Welt überlegen. In ihr würden zuhause unterrichtete Kinder leiden. Doch tun sie das? Die inhaltliche Kritik ist schwer faßbar. Der Betrachter lernt entspannte, souverän zu ihren Überzeugungen stehende Eltern mit erstaunlich vernünftigen, gewinnenden Töchtern kennen. Wo ist der Nachrichtenwert?
Jede Berichterstattung ist zwangsläufig von ihr zugrundeliegenden Absichten bestimmt: Welche Reaktion will ich erzielen? Beim Stilmittel der Allusion, einer Propagandatechnik, werden objektive Tatsachen nicht mehr berichtet, um etwas sachlich richtig darzustellen. Vielmehr geht es darum, Assoziationen zu erzeugen. Diese nisten sich knapp unterhalb der Bewußtseinsschwelle des Empfängers ein. Von dort beeinflussen sie ihn um so wirkungsvoller – nach dem Willen des Berichterstatters. Wenige Worte reichen aus, um in den Köpfen der Leser, Zuhörer, Zuschauer ein bestimmtes Bild, eine bestimmte Reaktion auszulösen. Ohne erkennbaren Inhalt prägt diese Botschaft sich dennoch ein.
Und um eine Botschaft geht es in der Tat. Der Kommentar aus dem Off ist von einem allein beseelt: „Hausunterrichter verstoßen gegen Anstand und Sitte“. Die Norm selbst bleibt diffus, lautet etwa: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen – vor allem an „deutscher Pädagogik“ mit ihrer Sexualerziehung. Wer hiervon abweicht, wer so frei ist, Bildung in die eigenen Hände zu nehmen, darf verächtlich gemacht werden. Gleich zu Anfang fällt die abwertend gemeinte Aussage, die Mutter habe „nur einen Realschulabschluß“ – trotzdem unterrichte sie fast alle Fächer. Bezeichnungen wie „Chef-Inquisitorin“, weil sie modernem Liedgut für ihre Töchter nicht viel abgewinnen mag, oder „Bildung nach Hausfrauenart“ für den Unterricht in den eigenen vier Wänden, geben den Ton an.
Fixiert auf alles Geschlechtliche
Der Logik des Filmemachers folgend, läßt das vermeintlich zweifelhafte Erziehungskonzept der Eltern sich an ihrem Umgang mit dem Thema Sexualität nachweisen – oder dem, was Duwe darunter versteht. Seine Fixiertheit auf diesen einen Aspekt elterlicher Erziehung wirkt krankhaft. Ausgerechnet einen Sektenbeauftragten der evangelischen Kirche läßt er als Experten für pädagogische Fragen zu Wort kommen. Dem Theologen sieht man an, daß er nicht über allzu viel erzieherische Erfahrung verfügen kann. Dennoch schwingt er sich dazu auf, von schlimmer „Tabuisierung“ und der Notwendigkeit „schulischer Behandlung“ geschlechtlich ausgerichteter Themen für genau jene Kinder zu schwadronieren.
Freilich hat eine internationale Studie des Kondomhersteller Durex in 26 Ländern vor zwei Jahren herausgefunden: Deutsche Schüler verfügen über die besten Kenntnisse zum Thema Sexualität und Sexualpraktiken. Ihre reichhaltigen Kenntnisse bezögen sie aus dem schulischen Sexunterricht – gaben die Schüler an. Doch was ist von „deutscher Pädagogik“ zu halten, die höchstens Weltmeister in Sachen geschlechtlicher Aktivität hervorbringt? Nicht nur der Filmautor scheint dies bedenkenlos für das Erstrebenswerte schlechthin hochzuhalten – und jedem, der das nicht nachvollziehen will, die Existenzberechtigung abzusprechen.
Bildung und Erziehung von Kindern an deren Wissen um Kopulation in mannigfaltigen Formen zu messen, ist engstirnige Huldigung des Zeitgeistes – und der Medienkonsumenten. So gibt denn auch die Schwerpunktnachricht des sechsminütigen Streifens aus Hamburg nicht viel mehr als die Klage in kleinem Karo wieder: „Huch, wie kann man nur?“ Dabei sind die Gründe für Hausunterricht so unterschiedlich und vielgestaltig wie die Familien selbst, die diese Bildungsalternative für sich entdeckt haben. Der Wunsch nach schulferner Bildung hat seine eigene Berechtigung – und ist ganz und gar nicht an ein enges Weltbild oder religiöses Eifertum, erst recht nicht an bestimmte sexuelle Normen gekoppelt.
Neurotischer Tunnelblick – nüchterne Seriosität
Anfang November fand hierzu in Berlin eine hochkarätig besetzte Konferenz statt. Silvio Duwe war dabei. Anhand der Experten aus aller Welt und anwesenden Hausunterrichter hätte er sich ein differenziertes Bild von „Home Education“ machen können. Tatsächlich lauschte der Spiegelmann eher lustlos und in sich gekehrt den Vorträgen, führte kaum Gespräche mit Konferenzteilnehmern, gab seinem Kameramann hin und wieder Anweisungen zum jeweiligen Dreh, telefonierte. Im Vorfeld der Konferenz hatte er händeringend nach deutschsprachigen Familien gesucht, bei denen zuhause er hätte filmen können. Dazu gab er vor, die „Probleme von Hausunterrichtern in Deutschland bekanntmachen“ zu wollen. Im Ergebnis war ihm eher daran gelegen, Bildungsfreiheit in ein negatives Licht zu tauchen. Hierfür ist die Kombination von Schöpfungsglaube, Ablehnung schulischer Sexerziehung und biblischen Werten unschlagbar. In Deutschland selbst glücklos geblieben, fand Duwe schließlich in Österreich willfährige Opfer.
Hausunterricht mit dem Tunnelblick neurotischer Sittenwächter darzustellen, kontrastiert merkwürdig mit der nüchternen und informativen Berichterstattung in angelsächsischen Printmedien: War es Anfang 2012 das Nachrichtenmagazin „Newsweek“ mit seiner großen Homeschooling-Reportage, im Sommer die renommierte Zeitung „Wall Street Journal“, greift zum Jahresende das Weltklasseblatt „The Economist“ das Thema auf: „Keep it in the family – Homeschooling is growing ever faster“ titelt der Marktführer in Seriosität und tiefgehendem Journalismus. Ohne einen Anflug von Häme oder bevormundendem Besserwissertum behandelt man hier ein Bildungsthema, das weder abseitig noch verschroben, vielmehr richtungsweisend ist. Von derartiger Offenheit gegenüber dem journalistischen Objekt sind verklemmte deutsche Medien weit entfernt.
Quelle: Der blaue Brief
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