Das meiste, was ich gelernt habe, habe ich nicht in der Schule gelernt. Reden und Singen, Arbeiten und Spielen, Essen und Trinken, Lieben und Trauern, all das beherrsche ich aufgrund außerschulisch erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten. Die Techniken guckte ich mir bei anderen ab, und das Verhalten ahmte ich von Vorbildern nach… Meine erfolgreichsten Lehrer waren Mama und Papa, Oma, Opa, Tanten, Onkel, vor allem aber Freunde, Spielkameraden und -kumpane, Nachbarn, Cliquen. Auf der Straße wurde mir mehr beigebracht als in den Klassenräumen, in denen ich – Gott sei Dank – nur Teile meiner Kindheit verbrachte.
Ich nehme an, es liegt daran, dass heute fast alle Kinder zur Schule gehen, wo alles für sie vorgeplant ist, dass sie anscheinend so völlig unfähig sind, eigene Ideen hervorzubringen.
Der Konkurrenzgeist, der in der Schule herrscht, zerstört alle Gefühle menschlicher Bruderschaft und Zusammenarbeit, und versteht Erfolg nicht als das Ergebnis einer Liebe zu produktiver und nachdenkender Arbeit, sondern als Produkt des persönlichen Ehrgeizes und der Angst vor Ablehnung.
Immer mehr Kinder bilden ihre stärkste Bindung gar nicht mehr zu Erwachsenen aus, sondern zu Gleichaltrigen. Wir glauben dann, sie seien unabhängig, und freuen uns. In Wirklichkeit haben sie ihre Abhängigkeit nur auf die anderen Kinder verlagert und orientieren sich fortan an denen. Den Lehrern und Eltern fehlt damit die entscheidende Grundlage für jede Erziehung, nämlich die stabile, tiefe Bindung ihrer Kinder an sie. Deswegen ist das Unterrichten so mühsam geworden.
Für die Kinder wiederum bedeutet die Gleichaltrigenorientierung höchsten Stress. Die normalen Verletzungen, die Kinder in ihrer Unreife sich schon immer zugefügt haben, treffen sie mit voller Wucht, denn die anderen Kinder sind nicht mehr einfach nur ‚Spielkameraden‘, sondern das Wichtigste in ihrem Leben, die Erwachsenen sind blasse Randfiguren geworden. Viele dieser Kinder haben zu keinem Erwachsenen mehr eine so tiefe Bindung, dass sie bei ihm schwach sein und sich ausweinen können. Um sich in dieser Situation zu schützen, panzern sie sich gegen ihre Gefühle – sie werden ‚cool‘. Mit den verletzlichen Gefühlen von Angst, Sorge etc., die sie verleugnen, verlieren sie aber auch den Zugang zu den anderen ‚weichen‘ Gefühlen wie Interesse, Begeisterung, Fürsorglichkeit etc. Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf ihre Reifeentwicklung, denn wir lernen über unsere Gefühle. Wenn wir nicht spüren, was uns bewegt, bleiben wir unreif.
In Kanada, wo übrigens Freilernen eine ganz normale, staatlich sogar geförderte Bildungsform ist, hat man inzwischen an vielen Schulen erkannt, dass all die Programme, die auf eine Verhaltensänderung der Schüler abzielen, sinnlose Symptombekämpfung sind. Was hilft, ist nur eine stabile Bindung der Kinder an mindestens einen anteilnehmenden Erwachsenen. Das ist auch, wie man in umfassenden Langzeitstudien herausgefunden hat, der klarste Einzelfaktor im Zusammenhang mit einer positiven Sozialprognose: Eine Chance haben gefährdete Kinder und Jugendliche praktisch nur dann, wenn es eine solche Person in ihrem Leben gibt.
Meine Zukunftsvision besteht darin, dass die Leute nicht mehr Prüfungen ablegen und aufgrund deren Ergebnisse von der Sekundarschule zur Universität wechseln; sondern dass sie als Einzelne von einer Stufe der Unabhängigkeit zu einer höheren gelangen, durch ihre eigene Aktivität, ihre eigene Willensanstrengung, worin die innere Entwicklung des Einzelnen besteht.“